Denke negativ

Everyone is a moon, and has a dark side which he never shows to anybody.“ (Mark Twain)

Kann das Dunkel im Menschen sprachfähig werden, wenn diese Seite doch dadurch definiert ist, dass sie nie sichtbar wird, ja vielleicht nicht einmal sich selbst gegenüber?

Wenn diese Seite so dunkel ist wie behauptet, dann bedeutet das, dass die Hälfte von unserem Wesen permanent abwesend ist.

Es stellt sich tot, lässt sich verschwinden.

Und doch ist sie da und arbeitet im Hintergrund.

Es ist denkbar, dass diese dunkle und verdrängte Seite weit mehr als die Hälfte dessen ausmacht, was wir wirklich sind.

Wir haben seit unserer Kindheit gelernt diese dunkle Seite zu verdrängen und zu verstecken.

Es ist ein Negativ von uns.

Bestehend aus dem Abgestrittenen, dem Verleugneten, dem Verdrängten.

Aus Erfahrungen der Scham, des Zweifels, der Enttäuschung.

Dass das Negativ zugleich schlecht ist, ist jedoch ein Vorurteil.

Das Negativ ist durch das Negieren eigener Anteile, Gedanken und Erfahrungen definiert, ohne dass diese per se schlecht sind oder durch die Negation verschwinden.

Durch die Negation ändern sie lediglich ihre Erscheinung.

Um sie zu erkennen, muss man die Negation an der Stelle erkennen, wo sie sich am Unsichtbarsten macht: in den Akten der automatisierten Umgehung.

In unseren Erzählungen von uns selbst, die nur eine zensierte Version von unserem Selbst darstellen.

Vielleicht ist uns während der Negation aber ganz Wesentliches verloren gegangen.

Und wurde in seiner scheinbaren Abwesenheit von uns zu Furchtbarem und schließlich zu nicht Existentem erklärt.

Dies gilt es zu bergen.

In diesem Sinne heißt negativ denken: die eigene Welt vom Abgestrittenen her neu denken.

Dies ist jedoch eine unwahrscheinliche Option.

Denn das Verstecken des ungelüfteten Teils unserer Persönlichkeit ist zu einem Teil unserer Persönlichkeit geworden.

Das war der Deal, den wir eingingen, als wir in die Gesellschaft sozialisiert wurden.

Doch wie, wenn genau dieser Teil eines Tages zu sprechen beginnt?

Eben dies ist paradox: Wenn es so eine Seite gibt, dann wird sie sich assimilieren, sobald sie ans Tageslicht dringt.

Wir werden sie nie zu fassen kriegen.

Aber was, wenn doch?

Manches davon verstecken wir täglich aus unhinterfragter Rücksicht auf ein anonymes imaginäres Publikum.

Anderes davon haben wir erfolgreich verdrängt, Weiteres davon macht uns größte Angst.

In allen drei Fällen gilt: Diese Seite von uns ist offensichtlich furchtbar.

Zumindest ist sie furchtbar genug, dass sie versteckt gehalten werden muss, wenn wir überleben wollen.

Wie ein Kind, für das sich dessen Eltern schämen und es vor ihren Gästen peinlichst verstecken.

Weil sie glauben, dass ihr Kind einen äußeren Makel besitzt, der nie hätte sein dürfen und den niemand je erblicken soll.

Doch wie, wenn dieses Kind eines Tages unvermittelt in der Mitte des Raumes steht und den Menschen reihenweise in die Augen schaut?

Was wird passieren, wenn das Tabu gebrochen, die Konvention verletzt, das Unsagbare vorgeführt wird?

Wird die Flut hereinbrechen, deren bloße Vorstellung das Kind in die Dunkelheit trieb und seinen Eltern panische Angst vor der Entblößung und Beschämung einflößte?

Wie dunkel ist diese Seite?

Sie ist dunkler als dunkel.

Nicht böse.

Sondern dunkel.

Die Verwechselung von dunkel und böse ist der erste Schritt um das Kind seiner Würde zu berauben, es der Verachtung preiszugeben.

Ehe das Dunkel nicht bei vollem Bewusstsein mit all seinem Schrecken durchlaufen und gespürt wird, wird es stets im nebulösen Zustand zwischen Existenz und Nichtexistenz bleiben.

Wie ein Geist, der da zu sein scheint, wenn man nicht genau hinschaut, aber verschwindet, sobald man ihn fassen oder ansehen will..

Ehe das Dunkle nicht bewusst durchlaufen wird, kann es nicht aufgeklärt werden.

Es wird stets im Hintergrund mithören, mitfühlen.

Und es wird tief leiden, da es in jedem Moment, in dem es so viel zu sagen hätte, schweigt.

Wie das Kind, das sich nicht rührt um von den Gästen nicht entdeckt zu werden.

Doch wie, wenn sich der Vorhang in einem Moment der Unachtsamkeit öffnet?

Was wird mit den Gästen geschehen, mit der Scham der Eltern, mit dem offenbar gewordenen Kind, ab diesem einen Moment, der nicht rückgängig zu machen ist?

Was wird passieren, wenn der Boden weicht, wenn wir ungeschützt der Angst vor der Angst ausgeliefert sind?

Werden wir danach noch existieren, und wenn ja: wie und als was?

Dies zu erkunden ist das Ziel von „Das Negativ“.

Die Ergebnisse müssen verstörend sein.

Nur dann sind sie dem gesuchten Negativ entsprungen, der dunklen Seite des Mondes.

Das Verstörende ist Teil von uns.

Es gehört zu uns.

Es kann rehabilitiert werden.

Die dunkle Seite des Mondes ist für die Erdenbewohner unsichtbar.

Dies verwechseln sie machmal mit „Dunkelheit“.

Und erklären etwas, das mindestens so real ist wie sie selbst, zu Dunklem, und schließlich zu Unheilvollem.

Vom Standpunkt des Universums sind jedoch alle Seiten des Mondes mal hell und mal dunkel.

Es gibt aber eine der Erde zugewandte und eine der Erde abgewandte Seite.

So war der Deal, als Erde und Mond eine Beziehung eingingen.

Aber Hell und Dunkel, das sind hier Missverständnisse.

Beide Seiten des Mondes kennen gleich viel Tag wie Nacht.

Und doch erklärt der Erdenbewohner allein die ihm bekannte Seite für hell und das ihm nicht Zugängliche für dunkel.

Was für eine Arroganz!

Genau diese war es, durch die ihr mit stummer Drohkulisse das Kind verurteilt und zum Rückzug genötigt habt!

Genau diese war es, durch die ihr das Ritual von Scham und Beschämung tief in die Seele dieses Kindes und seiner Eltern einbeschrieben habt!

Und nun wollt ihr diejenigen sein, die von dem Anblick dieses Kindes geschont bleiben sollen?

Die Angst vor der Offenbarung des Kindes, dem keiner in die Augen zu blicken wagt, ist die Projektion eurer Angst vor eurem eigenen entstellten Ich!

Denke negativ.

Mache das Verborgene sichtbar.

Nicht durch Assimilation an das Tageslicht, sondern indem du der Angst vor der Angst ins Gesicht blickst.

Indem du das Furchtbare so sagst, „… dass es nicht mehr furchtbar ist; dass es Hoffnung gibt, weil es gesagt ist.“ (Elias Canetti)

Indem du dem Schrecken die Hand reichst, deiner dunklen Seite Frieden anbietest.

Indem du das von allen gemiedene Kind hervorholst, mit ihm zu reden beginnst.

Und es dir vielleicht in diesem Moment zuvorkommt.

Und du die Stimme hörst, die nie hätte erklingen sollen.

Eine Stimme, anders als erwartet, wunderschön, sie könnte deine sein.

Was wird sie sagen?